Lügen oder ehrlich sein? – Ist es wirklich immer die beste Entscheidung, die Wahrheit zu sagen?

GEPRÜFT DURCH | STEFANIE STAHL & LUKAS KLASCHINSKI VERÖFFENTLICHT | 31.01.2023

Ehrlichkeit währt am längsten und wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Aber eine kleine Notlüge hat noch niemandem geschadet und außerdem verkraftet die Wahrheit doch sowieso niemand. 

Diese Sprichwörter, die wir alle kennen, könnten widersprüchlicher kaum sein. Also, was denn nun? Sollte ich meine beste Freundin darauf hinweisen, dass sie im letzten halben Jahr ganz schön zugenommen hat? Verdient es mein Partner zu wissen, dass ich ihm auf der Weihnachtsfeier fremd gegangen bin? Und sollte ich meiner Chefin eigentlich sagen, dass ich ihre Idee für das neue Projekt total unoriginell und ihren kleinen Mops, den sie immer mit ins Büro nimmt, abgöttisch hässlich finde?

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Tagtäglich fragen wir uns, ob wir ehrlich zu unserem Gegenüber sein sollten oder ob es Ausnahmen gibt, in denen Notlügen erlaubt oder vielleicht sogar ganz gut sind.

Laut den neuesten Untersuchungen entscheiden wir uns circa zwei Mal am Tag dafür, unsere Mitmenschen anzulügen. Die Wenigsten kommen also gänzlich ohne Notlügen aus. Das fängt schon bei den banalsten Alltagsgepflogenheiten wie „Mir geht’s gut.“ oder „Schön, dich zu sehen.“ an. Doch die Frage ist: Was bezeichnet man überhaupt als Lüge?

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Bloß ein Geheimnis oder schon eine Lüge? Wo fängt Lügen an?

Eine Behauptung, die gar nicht der Wahrheit entspricht, ist ganz klar eine Lüge. Aber lügt man auch, wenn man etwas nicht sagt und vor seinem Gesprächspartner verheimlicht? Der Großteil der Menschen würde auch ein Geheimnis als Lüge einstufen, da es sich schlussendlich um unehrliches Verhalten handelt. Denn Informationen bewusst wegzulassen oder missverständlich zu formulieren, hindert die andere Person daran, sich ein vollständiges Bild von der Wahrheit machen zu können. Aber warum haben wir das Bedürfnis zu lügen, wenn wir doch auch einfach ehrlich sein könnten?

Warum lügen Menschen?

Die 4 häufigsten Motive

1

Sich Ärger ersparen

Haben wir vergessen, einen wichtigen Brief rechtzeitig abzuschicken oder Brezeln zum Sonntagsfrühstück mit den Schwiegereltern mitzubringen? „Wenn ich das zugebe, gibt es doch nur Ärger.“ Diesen Satz hat sich vermutlich jeder schon mal gedacht. Einen Fehler zuzugeben ist oft mit negativem Feedback und Vorwürfen verbunden. Dies würden wir gern vermeiden. Also wieso nicht einfach sagen, dass man auch nicht wisse, warum die Post wieder so lange braucht und dass die Brezeln beim Bäcker leider schon ausverkauft waren? Vor allem Menschen, die als Kind für Missgeschicke bestraft wurden, haben den Glaubenssatz „Ich darf bloß keine Fehler machen“ verinnerlicht. Daher fällt es ihnen besonders schwer, Fehltritte zuzugeben. Sie haben Angst, sich möglichen Konsequenzen zu stellen. Eine solche Kindheitserfahrung kann zu pathologischem Lügen im Erwachsenenalter führen.

2

Höflichkeit wahren

Auf eine Frage wie „Fällt es sehr auf, dass die neue Blondierung einen Grünstich hat?“ ehrlich zu antworten, fällt den meisten Menschen sehr schwer. Auch wenn wir in Wahrheit finden, dass der Friseur verklagt gehört, ist „Ach quatsch, das ist mir gar nicht aufgefallen!“ definitiv die sozial verträglichere Antwort. Schließlich ist nicht nur Ehrlichkeit, sondern auch Höflichkeit eine Tugend, die man einhalten möchte. Niemand will als unhöflich, harsch oder gar gemein abgestempelt werden und wir wollen unserem Gegenüber auch kein unangenehmes Gefühl geben (Das fühlt sich nämlich auch für uns selbst gar nicht so angenehm an). Vor allem bei Menschen, die uns nicht besonders nahestehen, entscheiden wir uns in solchen Situationen gerne für die höfliche Notlüge.

3

Bequemlichkeit

Natürlich könnten wir unserem Kumpel auch ausführlich erklären, warum unser Tag heute sehr stressig war und uns die Verabredung heute Abend daher einfach zu viel ist. Oder wir schicken einfach eine WhatsApp Nachricht in der steht: „Hab totale Kopfschmerzen…kann leider doch nicht mit ins Kino kommen, sorry!“ Oft ist die Wahrheit sehr komplex und es ist schlichtweg bequemer sein Gegenüber mit einer kleinen Notlüge abzuspeisen. Denn für diese müssen wir uns meist nicht nur weniger öffnen, sie spart auch Zeit. Es ist also nicht verwunderlich, dass Ausreden wie „Ich stand im Stau.“ oder „Ich hab deinen Anruf gar nicht gehört.“ zu den häufigsten Notlügen zählen.

4

Beziehungen pflegen

Ehrlichkeit ist ein wichtiger Beziehungswert für viele Menschen. Daher klingt es erstmal paradox, aber: Oft lügen wir, um unsere Beziehungen zu den Menschen, die uns am Herzen liegen, aufrechtzuerhalten. Manchmal haben wir das Gefühl, uns selbst besser darstellen zu müssen, um anderen zu gefallen. Schließlich wollen wir nicht, dass unsere Eltern enttäuscht von uns sind, wenn sie wüssten, dass wir die letzte Uni Klausur wieder vergeigt haben.  Häufig lügen wir aber auch, um unser Gegenüber nicht zu verletzen und das Gesicht von den Menschen zu wahren, die wir lieben. Wir wissen, dass unsere beste Freundin sich schlecht fühlt, wenn wir ihr sagen, dass sie über ihre heutige Outfitwahl lieber noch ein zweites Mal hätte nachdenken sollen. Und wir wollen auch nicht, dass sich unsere Mutter schämt, wenn wir ihr sagen, dass Stricken einfach nicht zu ihren Stärken zählt und wir diesen Schal ganz sicher nicht in der Öffentlichkeit tragen werden. Also lügen wir. Damit unsere Mitmenschen sich wohl fühlen. Und auch damit niemand sauer auf uns sein kann, weil er oder sie sich vor den Kopf gestoßen fühlt. Im Weitesten lügen wir also, um geliebt zu werden und nicht auf Ablehnung zu stoßen.

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Sind wir überhaupt authentisch?

Wenn es so viele Gründe gibt, weshalb wir lügen, führen wir dann überhaupt noch ein authentisches Leben? Ja, man kann auch ein authentischer Mensch sein, ohne das Konzept der radikalen Ehrlichkeit zu leben. Also ohne immer genau das zu sagen, was man denkt, und zwar egal in welcher Situation. Schließlich ist es sehr vom Empfänger abhängig, welche Informationen wir preisgeben und was wir lieber für uns behalten. Fragt einen ein Arbeitskollege vor dem Firmenvorstand, wie das Wochenende war, wäre die Antwort „Super! Ich war total betrunken und hatte einen wilden One-Night-Stand.“ wohl eher unangebracht. Dieselbe Geschichte seinem besten Freund beim Mittagessen zu erzählen, ist jedoch etwas ganz anderes. Solche Situationen angemessen einschätzen zu können, ist eine Frage sozialer Kompetenz.

Außerdem hat jeder Mensch das Recht, seine Privatsphäre zu schützen. Nicht jeder hat das Anrecht, alles über einen zu wissen, und wir müssen nicht jedes intime Detail erzählen. Auch wenn wir unserer Oma nicht von feuchtfröhlichen Partynächten und unserer Yoga-Lehrerin von dem schwierigen Verhältnis zur eigenen Mutter berichtet, können wir geradlinige und authentische Menschen sein. Denn Authentizität bedeutet nicht, ungefiltert alles zu teilen, sondern vielmehr sich nicht vorsätzlich zu verstellen, um etwas darzustellen, das man eigentlich gar nicht ist.

Wann sollten wir ehrlich sein und wann ist eine Lüge in Ordnung?

In manchen Situationen fällt es uns schwer zu entscheiden, ob wir den Mut haben sollten ehrlich zu sein oder ob es besser ist, einfach den Mund zu halten. Müssen wir zwischen Wahrheit und Lüge wählen, können uns diese beiden Fragen bei der Entscheidung helfen:

„Bringt es wirklich einen Mehrwert, wenn ich ehrlich bin?“

„Kann mein Gegenüber meine Ehrlichkeit auch annehmen?“

Finger weg von ungefragtem Feedback? Oder immer raus damit?

Ungefragtes Feedback, das nicht zu einer Verbesserung der Situation beiträgt, ist destruktiv. Jemanden zum Beispiel mit dem Satz „Puh, du siehst aber müde aus.“  oder „Wow, die neue Frisur macht dich echt zehn Jahre älter!“ zu begrüßen, sollte man demnach bleiben lassen. Menschen, die diese radikale Ehrlichkeit dennoch in ihrem Alltag leben, tun dies meist nicht, weil die Wahrheit einen großen Wert für sie hat, sondern vielmehr, weil ihnen schlichtweg egal ist, was andere (über sie) denken. Außerdem hängt damit auch oft die Einstellung zusammen, die eigene Meinung sei das Maß aller Dinge. Statt egozentrisch zu sein, sollten wir aber, vor allem wenn es um verletzende und respektlose Meinungsäußerungen gegenüber anderen geht, unser Taktgefühl und Einfühlungsvermögen walten lassen.Bemerkungen, denen keine Frage vorausgegangen ist, sind nur dann sinnvoll, wenn sie der anderen Person weiterhelfen können. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn man eine Information kennt, die den Blickwinkel des Gegenübers erweitert. Denn hierdurch kann unter anderem zu einer Auflösung von Streitigkeiten und Missverständnissen oder einer besseren Selbstreflexion beigetragen werden. Auch wenn man mit einer solchen Art der Einmischung vorsichtig umgehen muss, ist es sehr wichtig, Zivilcourage zu leisten. Viele Menschen halten sich aus Angst auf Zurückweisung zu stoßen, aus Situationen heraus, obwohl Ehrlichkeit viel hilfreicher wäre. Bemerken wir also, dass eine gute Freundin mit einem Problem zu kämpfen hat und offensichtlich Hilfe braucht, sollten wir sie darauf ansprechen, anstatt das Thema aus Scham zu ignorieren.

Ehrlichkeit in einer Beziehung: Seitensprung beichten oder verschweigen?

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Wenn man Menschen fragt, welche Eigenschaft ihr Partner oder ihre Partnerin unbedingt mitbringen muss, ist Ehrlichkeit eine der häufigsten Antworten. Kein Wunder, denn Vertrauen ist eine wichtige psychologische Funktion, die den Grundstein für eine solide Beziehungsbasis schafft. Dass einem auch in einer romantischen Beziehung mal eine kleine Notlüge herausrutscht, ist klar, aber wie sieht es mit großen Vertrauensbrüchen aus? Beichte ich, dass ich fremdgegangen bin? Oder tue ich so, als wäre die letzte Nacht im Urlaub mit dem italienischen Kellner gar nicht passiert?

Die Meinungen hierzu sind unterschiedlich. Einige sind der Ansicht, Untreue müsse immer und unter allen Umständen gebeichtet werden. Schon allein deswegen, weil man der anderen Person sonst ihre berechtigte Entscheidungsmacht darüber nehmen würde, ob sie dazu bereit ist, den Fehler zu verzeihen oder nicht. Andere wiederum denken, es müsse nicht sein, seine Beziehung wegen eines Ausrutschers derart stark zu gefährden. Schließlich würde einem vor allem durch eine Beichte geholfen werden: dem eigenen Gewissen. Begehen wir einen solchen Fehler, sollten wir uns fragen, ob es in diesem Fall nicht fairer wäre, das schlechte Gefühl selbst zu tragen und damit zu leben, anstatt seinen Partner oder seine Partnerin mit dieser Wahrheit womöglich schwer zu belasten.

Resümee: Was denn nun? Wahrheit oder Lüge?

Die Antwort auf die Frage, ob wir lügen oder ehrlich sein sollten, ist also: Es kommt auf die Situation an. Unbefriedigend? Ein bisschen. Aber auch beim Thema Ehrlichkeit oder Lüge gibt es, wie bei fast allen zwischenmenschlichen Szenarien, kein allgemeingültiges richtig oder falsch, kein schwarz oder weiß. Wichtig ist es allerdings, sich für die Thematik zu sensibilisieren und seine eigenen Gedanken und Handlungen kritisch zu hinterfragen. 

Wir sollten also weder ohne Rücksicht auf Verluste immer das sagen, was uns gerade einfällt, noch unseren Mitmenschen unfairerweise ständig einen Bären aufbinden und uns dadurch ihr Vertrauen in uns verspielen. Ehrlichkeit ist ein wichtiger Wert, der von uns so gut es geht, gelebt werden sollte und dennoch sind wir keine schlechten Menschen, wenn uns doch ab und zu eine Notlüge über die Lippen kommt. Denn ob Lügen nun gut oder schlecht ist, eins ist es auf jeden Fall: menschlich.

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