Wenn eine Person immer die Hauptrolle spielt – histrionische Persönlichkeitsstörung

GEPRÜFT DURCH | STEFANIE STAHL & LUKAS KLASCHINSKI VERÖFFENTLICHT | 01.05.2024

Bei manchen Personen scheint das Leben stets ein Drama zu sein – dramatisch gut oder dramatisch schlecht. Sie sind der Mittelpunkt auf jeder Party, einerseits durch ihr äußerliches Auftreten, andererseits durch außergewöhnliche Stories, die sie gekonnt zum Besten geben. Dadurch wird es auch nie langweilig in ihrer Gesellschaft. Ihr Lebensstil ist geprägt von der ständigen Suche nach aufregenden Erlebnissen, die ihre Umwelt ins Staunen versetzen sollen, wie das nächtliche Einbrechen in ein Schwimmbad, eskalative Partys und Drogen, emotionale Szenen nach einer Trennung oder grandiose Heiratsanträge. Heute tauchen wir tiefer ein in die Welt des Dramas – und schauen, was wirklich hinter dieser Fassade verborgen liegt.

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Was ist eine histrionische Persönlichkeitsstörung?

Histrionische Persönlichkeitsstörung ist eine psychische Erkrankung, die durch übermäßige Emotionalität und ein starkes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit charakterisiert ist. Der Begriff histrionisch leitet sich aus dem lateinischen „histrion“ für Schauspieler ab und spiegelt oft die Dramatik und Theatralik der Betroffenen wider. Personen mit dieser Störung stehen gerne im Mittelpunkt, wobei sie oft dramatische, teils theatralische Verhaltensweisen an den Tag legen. Sie können ihre Emotionen intensiv und unangemessen zur Schau stellen und nutzen häufig ihr äußeres Erscheinungsbild oder sexuell verführerisches Verhalten, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die Suche nach aufregenden Erlebnissen, die ihnen erneut die Bühne bieten, und eine hohe Beeinflussbarkeit durch andere sind ebenfalls typische Merkmale. Diese Verhaltensweisen sind jedoch mehr als nur Persönlichkeitszüge; sie können echtes Leiden verursachen und zu erheblichen zwischenmenschlichen Problemen führen. 

Ganz wichtig: Menschen mit einer histrionischen Persönlichkeit sollte man nicht einfach so in eine Schublade stecken.  Das ist so, als würde man eine depressive Person als jemanden beschreiben, der immer traurig alleine in der Ecke sitzt. Außerdem hat jeder Mensch verschiedene Persönlichkeitszüge. Eine Störung ist es, wenn es sich um eine sehr starke Ausprägung handelt. Zwischen Persönlichkeit und Störung ist eine Menge Spielraum und wir alle liegen irgendwo auf diesem Spektrum. Deshalb schauen wir uns zunächst erstmal an, was im klinischen Sinne eigentlich unter einer Persönlichkeitsstörung verstanden wird.

Persönlichkeitsstörungen beschreiben tief verwurzelte, andauernde Muster von Verhalten und innerem Erleben, die sich von der kulturellen Norm unterscheiden. Diese Muster manifestieren sich typischerweise in verschiedenen Lebensbereichen und sind erkennbar durch abweichendes Denken, Fühlen und zwischenmenschliches Verhalten. Dabei können die Gefühle und die Art, auf emotionale Reize zu reagieren, ungewöhnlich intensiv, instabil, abgeflacht oder unangemessen sein. Persönlichkeitsstörungen beginnen typischerweise in der Kindheit und Jugend und sind über längere Zeit stabil. Häufig zeigt sich die Störung in problematischem Beziehungsverhalten, wobei entweder die Person selbst oder nahestehende Personen darunter leiden. 

Menschen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung kämpfen oft mit dem Gefühl, für andere bedeutungslos zu sein. Dieses Gefühl treibt sie dazu, sich kontinuierlich in den Vordergrund zu drängen – sei es durch fesselnde Geschichten oder durch auffälliges Verhalten. Diese Art der Selbstpräsentation dient als Mittel, um die benötigte Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erlangen. Leider führt dies oft zu manipulativen Dynamiken innerhalb ihrer Beziehungen, insbesondere mit nahestehenden Personen. Diese anhaltende Beanspruchung der Aufmerksamkeit anderer kann Beziehungen stark belasten und dazu führen, dass sich Menschen aus ihrem Umfeld zurückziehen. Das ist der eigentliche Preis, den Menschen mit dieser Störung zahlen: Trotz ihres Wunsches nach engen Beziehungen führt ihr Verhalten oft zu Distanzierung und Isolation.

Wie entsteht die Störung?

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Genetik und Umwelt – Ein Zusammenspiel der Risikofaktoren

Studien legen nahe, dass bis zu 63% der Varianz bei dieser Persönlichkeitsstörung durch genetische Faktoren erklärt werden können. Doch auch die Umwelt spielt eine entscheidende Rolle. Ein Kind, das in seiner Entwicklung überwiegend für Oberflächlichkeiten oder übertriebene emotionale Reaktionen belohnt oder verstärkt wird, könnte risikoanfälliger für die Entwicklung dieser Störung sein. Zudem sind Vernachlässigung, ein angeborenes Temperament und erlebte Traumata als weitere Risikofaktoren identifiziert worden.

Bedingungslos geliebt werden

Die Entstehung der histrionischen Persönlichkeitsstörung ist eng mit zwischenmenschlichen Beziehungen verknüpft, insbesondere mit den ersten Bindungen zu den Eltern. In einer idealen Entwicklung erfährt das Kind durch seine Eltern, dass es allein durch seine Existenz wertvoll ist, was eine sichere Grundlage für das Selbstwertgefühl bildet. Wenn ein Kind nicht die Erfahrung unbedingter Wichtigkeit und Akzeptanz macht, entwickelt es möglicherweise Annahmen über sich selbst und seine Beziehungen, die problematisch sind. Dies kann zu dem tief sitzenden Glauben führen, unwichtig oder sogar eine Belastung zu sein, wenn man einfach nur man selbst ist.

Das unerfüllte Grundbedürfnis

In der Tiefe unserer Psyche ist also das Bedürfnis verankert, für andere Menschen bedeutend zu sein. Menschen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung hegen oft die innere Überzeugung, keinen Wert für andere zu haben. Sie tragen die Angst in sich, unwichtig zu sein. Um diese Angst zu bewältigen, haben sie Strategien entwickelt, um die Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen zu erregen und damit vermeintliche Bedeutsamkeit zu erlangen. Ihr Selbstwertgefühl ist instabil und kann nur durch kontinuierliche Bestätigung von außen aufrechterhalten werden.

Aufgrund ihrer Erfahrungen, dass authentisches Verhalten nicht ausreicht, um als wertvoll angesehen zu werden, entwickeln sie Strategien, die andere dazu bringen sollen, ihnen die benötigte Anerkennung zu geben. Diese Strategien reichen von positiven Verhaltensweisen, wie charmant, unterhaltsam und interessant zu sein, bis hin zu negativen Taktiken wie Kontrollieren, Jammern oder das Vortäuschen von Symptomen, um weitere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Jedoch ist die erhaltene Aufmerksamkeit oft nur ein schwacher Ersatz für das wahre Bedürfnis, eine tiefergehende Bedeutung für andere zu haben. Es ist vergleichbar mit dem Trinken eines leckeren Getränks, wenn man eigentlich Hunger hat – es bietet nur eine kurzfristige Linderung. Das tiefere Bedürfnis, eine echte Bedeutung und Wichtigkeit für andere zu erlangen, bleibt unerfüllt. Dies ist den Betroffenen meist nicht bewusst; sie setzen die Strategien ein, die sie als früh erlernten Lösungsansatz kennen, um sich zu helfen.

Die tragische Ironie 

Personen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung streben oft danach, im Mittelpunkt zu stehen. Viele Betroffene sind bis zu einem gewissen Grad beliebt und gesellig, was wiederum das Verhalten verstärkt und aufrechterhält. Doch paradoxerweise führt gerade dieses Verhalten auch dazu, dass sie häufig als anstrengend empfunden und auf Distanz gehalten werden. Die Reaktionen ihrer Mitmenschen bestätigen ihre negativen Selbstbilder und die Annahmen über ihre Beziehungen zu anderen, wodurch ein schwer zu durchbrechender Kreislauf entsteht. 

In diesem Zuge wird auch von “erfolgreichen” und “erfolglosen” Menschen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung geredet. Die sogenannten „Erfolgreichen“ schaffen es durch ihre intensiven Bemühungen, die Aufmerksamkeit und Zuwendung anderer zu gewinnen. Sie investieren viel in soziale Interaktionen und sorgen dafür, dass sie als bereichernd und unterhaltsam wahrgenommen werden. Sie erscheinen wie schillernde Paradiesvögel, die jede Gesellschaft aufwerten. Doch das eigentliche Problem ist, dass diese Personen glauben, sie müssten ständig aktiv sein und sich einbringen, um nicht verlassen zu werden. „Erfolgreich“ zu sein in der Art, wie sie Beziehungen führen, bedeutet also nicht unbedingt, dass sie auch zufrieden sind. 

Zugang zu den eigenen Bedürfnissen

Ein besonderes Problem für Menschen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung ist der erschwerte Zugang zu den eigenen Bedürfnissen. Sie sind so darauf fokussiert, für andere wichtig zu sein, dass sie oft nicht wissen, was sie selbst wirklich wollen. In einer Psychotherapie wird daher Wert darauf gelegt, dass Betroffene lernen, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen, zu beobachten und zu hinterfragen. Dieser Prozess umfasst einfache Entscheidungen im Alltag sowie tiefere Fragen nach den eigenen Werten und dem, was langfristig Bestand hat. Es geht darum, sich zu fragen: Was genau will ich gerade wirklich und warum will ich das?

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Starke Gefühle, klare Antworten: Umgang mit Histrioniker:innen

Personen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung bringen oft viel Drama und Emotionalität in ihre Beziehungen, was das Zusammenleben und die Interaktion mit ihnen herausfordernd gestalten kann. Hier sind einige Tipps, die helfen können, die Beziehung zu stärken und gleichzeitig die eigenen Grenzen zu wahren:

1

Verstehen der Motivation

Es ist wichtig, sich immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, aus welchen Gründen jemand bestimmte Verhaltensweisen zeigt. Dieses Verständnis kann helfen, mit der Situation empathischer und geduldiger umzugehen.

2

Liebe und Wertschätzung ausdrücken

Zeige, wie wichtig dir die Person ist, auch ohne, dass diese danach fragt: „Du bist mir sehr wichtig“ oder „Ich liebe dich, unabhängig davon, was du tust“. Sei großzügig mit positiven Rückmeldungen. Menschen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung neigen dazu zu glauben, dass sie dir nicht wichtig sind. Daher ist es hilfreich, ihnen regelmäßig zu versichern, dass sie geschätzt werden.

3

Ernsthafte Auseinandersetzung

Nimm die Anliegen der Person ernst und gehe darauf ein. Auch wenn die erste emotionale Reaktion heftig ausfallen kann, ist es hilfreich, gemeinsam zu erkunden, welche Bedürfnisse dahinterstecken.

4

Eigene Grenzen kennen und setzen

Obwohl Aufmerksamkeit und Bestätigung die Beziehung verbessern können, ist es wichtig, klare Grenzen zu setzen und zu bewahren. Sei dir deiner eigenen Grenzen bewusst und kommuniziere diese klar. Für eine gute Beziehung ist es nicht nur wichtig, Aufmerksamkeit zu geben, sondern auch, sie selbst zu erhalten.

5

Konstruktive Kritik äußern

Personen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung reagieren oft nicht besonders gut auf Kritik. Dahinter steht meist die Angst, die Beziehung zu verlieren. Formuliere Kritik daher zum Beispiel so: „Weil mir unsere Beziehung wichtig ist, möchte ich mit dir über XY sprechen.“

6

Umgang mit negativen Strategien

Negative Strategien wie Jammern oder das Vortäuschen von Symptomen sind besonders herausfordernd. Es ist wichtig, nicht regelmäßig auf diese manipulativen Taktiken einzugehen, da sie sonst zu einem belastenden Verhaltensmuster werden können.

Der Umgang mit Menschen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung oder solchen Tendenzen erfordert ein hohes Maß an Empathie und Geduld, aber auch die Fähigkeit, persönliche Grenzen zu setzen und zu bewahren. Es ist eine Balance zwischen Unterstützung und Selbstschutz, die in jeder Beziehung individuell gefunden werden muss.

Kritik am Konstrukt

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Im neuesten Update der ICD-11, der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in ihrer 11. Überarbeitung, sehen wir einen bedeutenden Wandel in der Art und Weise, wie Persönlichkeitsstörungen klassifiziert werden. Im Gegensatz zu früheren Versionen, wie der ICD-10, wo Persönlichkeitsstörungen in spezifische Kategorien unterteilt wurden, verwendet die neue Auflage ein dimensionales Bewertungssystem. Die einzige Ausnahme bildet die Borderline-Persönlichkeitsstörung, die weiterhin als eigene Kategorie geführt wird. In der neuen Version wird also nicht mehr strikt zwischen den verschiedenen Persönlichkeitsstörungen unterschieden. Stattdessen konzentriert sich das dimensionale System auf Merkmale wie negative Affektivität, Dissozialität, Enthemmung, Anankasmus (Zwanghaftigkeit) und Distanziertheit, um die Vielfalt und die Schweregrade der Störungen besser zu erfassen. Die Diagnose „histrionische Persönlichkeitsstörung“ wird also nicht mehr einzeln aufgeführt, sondern ist Teil der umfassenderen Kategorie „Persönlichkeitsstörung“, die weiter durch spezifische Merkmale definiert wird.

Die Kritik an der traditionellen Diagnose der histrionischen Persönlichkeitsstörung beinhaltet mehrere Punkte:

Historische Assoziationen: Die histrionische Persönlichkeitsstörung wurde früher im Rahmen von Freuds Konzept der Hysterie verstanden, wobei der Begriff „Hysterie“ vom griechischen Wort für Gebärmutter stammt. Dies spiegelt die überholte Vorstellung wider, dass diese Störung spezifisch mit weiblichen Reproduktionsorganen verbunden ist. Solche Theorien gelten heute als wissenschaftlich weit überholt.

Geschlechtsspezifische Zuschreibungen: Diese Störung wird häufig Frauen zugeschrieben, was teilweise auf Geschlechterstereotype zurückgeführt wird. Diese Stereotypen beeinflussen nicht nur die Diagnose und Behandlung, sondern auch die gesellschaftliche Wahrnehmung auf eine ungleiche und voreingenommene Weise.

Mangel an wissenschaftlicher Evidenz: Obwohl es einige gut entwickelte Modelle zur Behandlung der histrionischen Persönlichkeitsstörung gibt, ist die wissenschaftliche Grundlage für viele Aspekte dieser spezifischen Diagnose schwach.

Die Überarbeitung der ICD und der Übergang zu einem dimensionalen Modell versuchen, diese und andere Probleme anzugehen. Diese Änderungen reflektieren den Fortschritt im Verständnis psychischer Gesundheit und zielen darauf ab, die Genauigkeit in der Diagnosestellung zu verbessern und die Behandlungen effektiver zu gestalten.

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