Am Samstagnachmittag in den Supermarkt? An einem heißen Tag mitten in der Menge zu einem Konzert abrocken oder auch nur das leise Summen des Kühlschranks in der Nacht einfach mal ignorieren? Was für viele Menschen keinen zweiten Gedanken wert ist, kann hochsensible Menschen vor große Herausforderungen stellen. Aber was Hochsensibilität überhaupt ist, ob du vielleicht auch davon betroffen bist und wie du damit bei dir selbst oder Menschen in deinem Umfeld umgehen kannst, erfährst du in diesem Beitrag.
Hochsensibilität ist in aller Munde und scheint schon fast zu einem Modebegriff geworden zu sein. Für manche bedeutet es eine Erlösung, andere halten es für Quatsch – aber auch wenn das Konzept Hochsensibilität von gewissen anderen Konzepten (noch) nicht scharf abzugrenzen ist, ist es mittlerweile wissenschaftlich gut untersucht und belegt. Nichtsdestotrotz – und obwohl schätzungsweise 15-20% aller Menschen davon betroffen sind – stehen Sprüche wie “Mein Gott, du bist aber empfindlich”, “Stell dich nicht so an” oder “Mach doch nicht immer aus einer Mücke einen Elefanten” für Hochsensible leider oft noch an der Tagesordnung. Aber was ist Hochsensibilität eigentlich genau und wie entsteht sie?
Das Konzept der Hochsensibilität geht auf die amerikanische Psychologin Elaine Aron zurück. Man versteht darunter eine verstärkte Sensibilität gegenüber inneren und äußeren Reizen, die mit einer erhöhten Informationsverarbeitung bzw. einer tieferen Verarbeitung sämtlicher Reize im Gehirn einhergeht. Das kann sich sowohl auf kognitive Informationen, emotionale Intensität oder auch äußere körperliche und sensorische Reize – zum Beispiel Gerüche, Geräusche, Berührungen, Schmerzen oder extreme Temperaturen – beziehen. Hochsensible nehmen Reize also einerseits stärker wahr, verarbeiten sie tiefer und brauchen auch länger, um die Belastung durch die Reize wieder abzubauen. Das führt dazu, dass sie schneller reizüberflutet sind und für Dinge, die für andere ganz alltäglich sind, viel mehr Energie aufbringen müssen. Aufgrund ihrer erhöhten Sensibilität fühlen sich Hochsensible oft “falsch” und unverstanden, was dazu führen kann, dass sie ihre persönlichen Grenzen übergehen, um mithalten zu können.
Hochsensibilität ist eine genetische Disposition, bei der innere (z.B. Gedanken oder Emotionen) sowie äußere (z.B. sensorische) Reize im Gehirn weniger stark gefiltert und tiefer verarbeitet werden. Es ist also eine sogenannte Neurodivergenz (wie z.B. auch ADHS oder Autismus), was bedeutet, dass die neurologische Entwicklung und Funktion der Betroffenen von der “typischen” Entwicklung und Funktion abweicht – eben in Bezug auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen. Im Gegensatz zu ADHS oder Autismus ist Hochsensibilität aber nicht als Krankheit klassifiziert, weshalb es auch keine Hochsensibilitäts-Diagnose oder klinische Kriterien gibt.
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Hochsensibilität weist gewisse Überschneidungen mit anderen psychologischen Konzepten auf, wofür sie auch immer wieder kritisiert wird.
Beispielsweise wird Hochsensibilität häufig mit Introversion gleichgesetzt. Sowohl Hochsensiblen als auch Introvertieren kann es im sozialen Kontext nämlich schnell mal zu viel werden. Tatsächlich ist die Mehrheit, nämlich ca. ⅔ aller Hochsensiblen introvertiert, es gibt jedoch auch extrovertierte Hochsensible. Diese genießen soziale Kontakte zwar und brauchen sie auch, um Energie zu tanken – trotzdem ist ihre Reizschwelle im Vergleich zu Nicht-Hochsensiblen niedriger und sie brauchen schneller mal eine Pause.
Auch mit der Persönlichkeitseigenschaft Neurotizismus gibt es gewisse Überschneidungen. Personen mit einer neurotischen Disposition weisen ebenfalls oft eine hohe Emotionalität auf und sind daher auch tendenziell eher ängstlich, unruhig und reizbar – Symptome, welche auch bei Hochsensiblen auftreten können, wenn ihre Reizschwelle überschritten ist. Im Gegensatz zum Neurotizismus ist Hochsensibilität jedoch eine neurologische – und somit angeborene – Disposition, bei der Reize im Allgemeinen anders verarbeitet werden. Sie hat also zum einen andere Ursachen und geht zudem über Neurotizismus hinaus, da eben nicht nur Emotionen, auch äußere Reize wie Gerüche, Geschmäcker oder Geräusche tiefer verarbeitet werden.
Auch ein niedriges Selbstwertgefühl kann ähnliche Symptome wie Hochsensibilität aufweisen – zum Beispiel ebenfalls durch eine erhöhte negative Emotionalität, Empfindsamkeit und Kränkbarkeit. Hier gilt aber wie beim Neurotizismus, dass Hochsensibilität noch weitere Komponenten umfasst und vorwiegend auf einer neurologischen Grundlage basiert, nicht auf Erfahrungen und Kindheitsprägungen.
Man unterscheidet vier Dimensionen der Hochsensibilität:
Aus diesen Beschreibungen geht bereits hervor, dass Hochsensibilität gleichwohl Fluch und Segen sein kann: Einerseits sind Hochsensible anfälliger für Stress, (Über-)erregbarkeit und Erschöpfung. Sie brauchen dementsprechend für viele Dinge mehr Energie und müssen somit auch mehr Zeit für Pausen und Rückzug einplanen. Sie fühlen sich schneller und öfter überfordert und tendieren – insbesondere wenn sie ihre Reizschwelle überschreiten – zu Unruhe, Reizbarkeit und emotionaler Instabilität. Zudem besteht oft eine höhere Schmerzempfindlichkeit und eine Tendenz zum Grübeln. Hochsensibilität hat aber auch viele Vorteile: Hochsensible verfügen oft über eine besonders hohe Empathie und ein gutes Einfühlungsvermögen. Sie sind daher gefühlsintensive und aufmerksame Freund:innen und Partner:innen und empfinden zudem auch positive Emotionen oft intensiver als andere Menschen. Auch im Beruf kommt ihnen ihre Gewissenhaftigkeit, ihre gute Organisationsfähigkeit sowie oft auch eine erhöhte Kreativität, Fantasie und Ideenreichtum zugute. Dank ihrer starken analytischen Fähigkeiten sind Hochsensible oft gut darin, Dinge zu verknüpfen, haben ein Auge für Details und eine erhöhte Sensitivität für Ästhetik und Kunst.
Manche Menschen weisen alle vier Dimensionen auf, bei anderen ist nur eine stark ausgeprägt – daher kann das Erscheinungsbild auch zwischen verschiedenen Menschen stark variieren. Falls du dich von einer oder mehreren der Dimensionen angesprochen fühlst, kann es gut sein, dass du hochsensibel bist. Auch Online-Fragebögen, zum Beispiel unter https://www.zartbesaitet.net/ oder https://www.hsperson.com können hierüber Aufschluss geben. Da manche Menschen eben auch nur von einer Dimension betroffen sind, ist letztlich aber nicht der Gesamtscore entscheidend. Wichtig ist vielmehr, für sich herauszufinden, in welchen Bereichen man beeinträchtigt ist, um da für sich Maßnahmen ergreifen zu können.
Aber wieso ist es überhaupt wichtig, zu wissen, ob ich hochsensibel bin?
Hochsensible sind häufig mit vielen Vorurteilen konfrontiert. Sie werden leicht als überempfindlich und wenig belastbar abgestempelt, woraus sich Glaubenssätze wie “ich bin zu viel” oder “meine Emotionen und Bedürfnisse sind unangemessen” entwickeln können. Äußere Reaktionen wie “Stell dich nicht so an” oder “Reiß dich mal zusammen” werden verinnerlicht und vom inneren Kritiker reproduziert. Für Betroffene kann es daher eine große Erleichterung sein, zu hören, dass sie nicht “falsch” oder “zu viel” sind, sondern es sich um eine genetisch bedingte neurologische Disposition handelt.
Wenn man weiß, dass man hochsensibel ist und insbesondere auch, in welchen Bereichen man besonders betroffen ist, ermöglicht einem das auch, den Alltag auf die eigenen Bedürfnisse anzupassen und so zu gestalten, dass er der persönlichen Reizschwelle entspricht. So kann man einen guten Umgang mit der Hochsensibilität finden, lernen, in welchen Bereichen man gut auf seine Grenzen achten muss und sich letztendlich somit viel Energie sparen.
Aber wie kann ich mir das Leben denn nun etwas leichter machen, wenn ich hochsensibel bin?
Die gute Nachricht ist: Auch wenn Hochsensibilität eine genetisch bedingte Eigenschaft ist, gibt es viele praktische Tipps und Tricks, wie man seinen Alltag so anpassen und gestalten kann, dass man seiner eigenen Reizschwelle und Belastungsgrenze Sorge tragen kann.
Für Personen, welche nicht hochsensibel sind, kann es oftmals schwierig sein, nachzuvollziehen, was in Hochsensiblen eigentlich vorgeht. Für Menschen, die also im Freundes- oder Familienkreis oder in der Partnerschaft mit einer hochsensiblen Person zu tun haben, kann es sehr hilfreich sein, sich darüber zu informieren. So gelingt es auch eher, Akzeptanz und Verständnis aufzubringen. Wichtig ist zudem auch, den Betroffenen die benötigte Ruhe und den Rückzug zu gewähren, statt dies zu bewerten oder sich davon persönlich angegriffen oder gekränkt zu fühlen. Für Hochsensible kann es auch extrem entlastend sein, wenn Personen in ihrem Umfeld sensitiv auf ihre Bedürfnisse sind, mitdenken und Rücksicht nehmen. Letztlich liegt die Verantwortung natürlich bei den Betroffenen, ihre Bedürfnisse und Grenzen zu kommunizieren – da dies aber auch Energie kostet, kann aber natürlich sehr helfen, wenn man sich nicht jeden Tag mehrfach wiederholen muss.