Sich verletzlich zeigen zu können, kann ein Grundbaustein für ein erfülltes Leben sein. Aber was bedeutet es verletzlich zu sein, wie können wir uns anderen Menschen gegenüber öffnen und wo sind vielleicht auch die Grenzen dieser Eigenschaft?
Verletzlichkeit hängt häufig eng mit Authentizität zusammen. Denn machen wir uns verletzlich, zeigen wir Gefühle aus unserem Innersten – wir geben preis, was wir wirklich spüren und denken. Und genau das ist Authentizität. Verletzlich sein bedeutet also authentisch sein. Wenn wir zum Beispiel offen mit Enttäuschung umgehen, machen wir uns damit zwar verletzlich, gleichzeitig macht uns das aber authentisch, da wir uns so zeigen, wie wir wirklich sind. Wenn wir ehrlich zu uns sind, wissen wir eigentlich, dass alle Menschen verletzlich sind. Das fängt mit der Gewissheit an, dass wir alle irgendwann sterben, dass wir krankheitsanfällig oder auch psychisch verletzbar sind, wenn beispielsweise unsere Liebe nicht erwidert wird.
Diese Verletzlichkeit offen zu zeigen, ist aus verschiedenen Gründen wichtig. Zum einen gelingt es uns nur dann, tiefe Bindungen mit anderen Menschen aufzubauen, wenn wir sie nahe an uns – samt Schwächen, Unsicherheiten und Gefühlen – heranlassen. Sich anderen gegenüber verletzlich zeigen zu können, ist also eine Voraussetzung für gute Beziehungen. Genauso wichtig ist aber, dass wir uns selbst gegenüber verletzlich sein können. Denn nur wenn wir uns ehrlich und offen entgegentreten, können wir uns mitsamt all unseren Eigenschaften und Emotionen akzeptieren und wertschätzen.
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Es gibt viele Menschen, denen es schwer fällt, sich fallen zu lassen. Sie checken ständig, was andere über sie denken und wie andere Menschen auf sie reagieren. Sie verstellen sich, um anderen zu gefallen und sind deshalb nicht sie selbst. Sie sind also nicht wirklich authentisch und zeigen somit auch keine wahre Verletzlichkeit. Aber wieso ist das so?
Diese Menschen leben oft nach einem Vermeidungsmotiv: Sie möchten es vermeiden, abgelehnt zu werden und deshalb performen sie ununterbrochen. Es ist ihnen wichtig, dass sich andere Menschen gut fühlen und sie vergessen dabei, auf sich selbst zu achten, weil sie durchgehend damit beschäftigt sind, vermeintliche Erwartungen zu erfüllen. Das spricht dafür, dass diese Personen überangepasst sind: Sie nehmen sich selbst gar nicht richtig wahr. Dies ist ein Anzeichen für ein Problem mit dem Selbstwertgefühl: Wenn wir uns nicht trauen, wir selbst zu sein, sind wir nicht authentisch und verwehren uns somit den Zugang zu authentischen Beziehungen zu anderen Menschen. Das Problem dabei: Überangepasste Menschen wissen oft gar nicht, wer sie genau sind und was sie wollen. Sie haben keine richtige Verbindung zu sich selbst.
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Uns selbst spüren: Wir müssen lernen, den Kontakt zu uns selbst zu finden und wahrzunehmen, was wir fühlen und wie es uns geht. Denn: Spüren wir unsere Bedürfnisse nicht, wird es schwer, nach ihnen zu leben. Man sollte also in sich hineinhorchen und sich zum Beispiel fragen: Wie fühle ich mich gerade? Wo spüre ich dieses Gefühl? Wo könnte es herkommen? Was brauche ich gerade und was kann ich in diesem Moment tun, um für mich selbst da zu sein?
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Den bewussten Kontakt mit uns selbst wiederholen: Diesen inneren Check sollten wir regelmäßig durchführen – am besten mehrmals täglich. Da kann es zum Beispiel helfen, sich kleine Rituale zu setzen, die einen daran erinnern, kurz in sich hineinzuspüren. Wir können uns zum Beispiel vornehmen, jedes Mal, wenn wir zur Toilette gehen oder vor der Kaffeemaschine auf unseren Kaffee warten, kurz in uns hineinzuspüren und unseren kleinen Fragekatalog durchzugehen. Je öfter wir in bewussten Kontakt mit uns selbst treten, desto eher wird das Selbst-”Bewusstsein” auch verinnerlicht.
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Im Körper nachspüren: Neben der Aufmerksamkeit auf die Gefühlswelt ist es auch hilfreich, in unseren Körper hineinzuspüren. Fühle ich mich körperlich gut und energiegeladen oder bin ich müde und muss meinem Körper eine Pause gönnen? Wie fühlen sich die einzelnen Körperteile an? Wo fühle ich mich warm, wo kalt? Tut mir irgendetwas weh?
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Ich-Erleben etablieren: Indem wir regelmäßig bewusst mit uns selbst in Kontakt treten und uns unserer körperlichen und geistigen Vorgängen bewusst werden, entwickeln wir ein besseres Gefühl für uns selbst. Wer bin “Ich” eigentlich und wie fühlt es sich an, “Ich” zu sein?
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Arbeit an übergeordneten Werten: Zusätzlich können wir an unseren Werten arbeiten. Als Beispiel: Fairness. Ist es fair, zu unserem Gegenüber “Ja” zu sagen, obwohl wir “Nein” meinen? Sich auf übergeordnete Werte zu konzentrieren, führt dazu, dass wir uns bewusst werden, was uns eigentlich wichtig ist. Auch das vermittelt uns ein besseres Gefühl für unser eigenes Selbst und gibt uns eine Leitlinie für unser Verhalten.
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Arbeit am Selbstwertgefühl: Was haben wir in der Vergangenheit über unseren Selbstwert gelernt? Darüber müssen wir uns bewusst werden und die Vergangenheit klar von der Gegenwart trennen. So können wir unseren wahren Wert erkennen.
Das Problem muss aber nicht immer an der Überangepasstheit liegen. Scham kann einen großen Teil dazu beitragen, dass wir uns nicht verletzlich zeigen können und wollen. Aber wie genau hängt das zusammen? Unser erstes psychologisches Grundbedürfnis ist das Bedürfnis nach Bindung. Wir wollen anerkannt und nicht abgelehnt werden. Schämen wir uns aber für uns selbst, rechnen wir permanent damit abgelehnt zu werden, weil wir uns selbst ablehnen. Diese Ablehnung, die wir uns gegenüber verspüren, projizieren wir in die Köpfe anderer Menschen. Das hindert uns daran, uns zu öffnen und verletzlich zu zeigen. Vermutlich haben wir im Laufe des Lebens irgendwann erfahren, dass wir nicht gut genug sind. Auch die Gesellschaft gibt uns ständig vor, wie wir zu sein und auszusehen haben, gerade durch soziale Medien wie Instagram. Aber was können wir tun, wenn wir uns oft schämen?
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Normen hinterfragen: Sind die gesellschaftlichen Normen, die wir vermittelt bekommen, wirklich wichtig und richtig? Müssen wir uns damit vergleichen?
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Reality-Check: Schämen wir uns beispielsweise für unser Aussehen, kann es helfen, sich mal umzuschauen und andere Menschen wahrzunehmen. Raus aus dem Instagram-Feed, rein in die Realität.
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Sich selbst beheimaten: Lernen, sich im eigenen Körper wohlzufühlen und dankbar für ihn zu sein.
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Fokus verschieben: Dankbar dafür sein, dass man Beziehungen führen kann. Um schöne Beziehungen führen zu können, muss man nicht objektiv schön sein..
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Schamgefühl durch Charme ersetzen: Echt sein, sich verletzlich und authentisch zeigen.
Häufig fällt es Menschen schwer, sich verletzlich zu zeigen, weil Verletzlichkeit mit Ungewissheit einhergeht. Und wer mag schon ungewisse Situationen? Unser zweites psychologisches Grundbedürfnis ist Autonomie und Kontrolle. Wir brauchen eine gewisse Vorhersehbarkeit, um uns auf das einstellen zu können, was auf uns zukommt. Zeigen wir uns verletzlich und öffnen uns gegenüber anderen Menschen, können wir nicht vorhersehen, wie diese reagieren. Wir haben also keine Kontrolle über die Situation. Die Angst vor diesem Kontrollverlust ist zwar natürlich, hilft uns in diesem Fall aber nicht weiter. Um uns verletzlich und authentisch zeigen zu können, müssen wir diese Angst überwinden.
Es lohnt sich, klein anzufangen: Gerade im engen Freundeskreis kann uns das Üben leichter fallen. Wir sollten da anfangen, wo wir Vertrauen haben, dass unsere Offenheit und Verletzlichkeit nicht ausgenutzt und gegen uns verwendet wird. Wenn wir uns immer wieder trauen, verletzlich zu sein, haben wir auch die Chance, positive Erfahrungen zu machen. Wir lernen also, dass viele Menschen freundlich oder verständlich auf unsere Verletzlichkeit reagieren. Dadurch erlangen wir ein gewisses Selbstbewusstsein in Bezug auf unsere Verletzlichkeit. Dieses gibt uns wiederum Kontrolle zurück, da wir Situationen, in denen wir uns verletzlich zeigen, besser einschätzen können – ohne dabei Gefühle zu unterdrücken.
Wenn wir uns manchmal schwer damit tun, uns verletzlich zu zeigen, kann es helfen sich die folgenden Do’s & Don’ts vor Augen zu halten:
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Verletzlichkeit zu zeigen kostet immer Mut und Überwindung und sie geht meist mit einem mulmigen Gefühl und Risiko einher. Wer sich innerlich stabil fühlt, hat jedoch die Chance, Verletzlichkeit und Souveränität miteinander zu verknüpfen. Gleichzeitig ist es wichtig, diese Stabilität auch nach außen zu tragen und präsent zu bleiben.
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Es geht bei Verletzlichkeit nicht darum, bei anderen Schuldgefühle auszulösen (das wäre Manipulation!). Es geht auch nicht darum, getröstet werden zu wollen. Worum es geht: Die eigene Wahrheit, die eigenen Gefühle klar und mit innerer Stabilität zum Ausdruck zu bringen. Dafür ist es unumgänglich, Verantwortung für sich selbst und die eigenen Gefühle zu übernehmen.
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Verletzlichkeit birgt ein Risiko. Zum Beispiel das Risiko, belächelt zu werden. Denn Verletzlichkeit bedeutet, dass man sich öffnet. Das Wort verrät es: Wer sich verletzlich macht, kann verletzt werden. Doch es gilt auch: Nur wer sich verletzlich macht, ermöglicht wahre Verbindung.
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Wer Verletzlichkeit „einsetzt”, um Anhänger:innen zu gewinnen oder nicht zu unangenehmen Entscheidungen stehen zu müssen, ist auf der falschen Spur. Denn Verletzlichkeit hat keine Erwartungen, sie ist ein aufrichtiger Versuch, sich als Mensch zu zeigen.
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Meilenweit von der Komfortzone entfernt zu sein, ist zu viel des Guten. Wir sollten uns in einem Abstand zur gewohnten Komfortzone bewegen, den wir aushalten können.
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Wenn man sich in einer Unternehmenskultur mit reiner Machtorientierung und einer Mobbing-Kultur befindet, kann Verletzlichkeit nach hinten losgehen. In einem solchen Umfeld ist uns besser geraten, wenn wir keine zu große Angriffsfläche bieten.
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