Selbstmitgefühl lernen – warum dadurch das Leben schöner wird

GEPRÜFT DURCH | STEFANIE STAHL & LUKAS KLASCHINSKI VERÖFFENTLICHT | 22.03.2023

„Ich bin so dumm!“ „Nie kriege ich etwas hin.“ „Wieso bin ich immer so?“ 
Das sind Sätze, die vielen von uns bekannt vorkommen. Dagegen scheinen Gedanken, wie „Das habe ich richtig gut gemacht!“, eher eine Seltenheit zu sein. Seien wir mal ehrlich – irgendwie fühlt es sich komisch an, sich selbst zu loben. Es wundert also nicht, dass Redewendungen, die mit Lob und uns selbst zu tun haben, häufig nur in eine Richtung gehen: „Eigenlob stinkt.“ „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.“ „Hochmuth kommt vor dem Fall.“

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Liest man sich diese Sprüche durch, erscheint es fast so, als wäre es beschämend, sich selbst etwas Nettes zu sagen. Es ist also kein Wunder, dass wir eher dazu neigen, gemein zu uns zu sein. Diese Vorstellungen sind aber ziemlich veraltet. Heute wissen wir, dass es sehr heilsam und gut für unsere Psyche sein kann, uns selbst gut zuzusprechen, uns Komplimente zu machen und für uns einzustehen. Diese Dinge lassen sich unter Selbstmitgefühl zusammenfassen. Was das genau bedeutet, was es mit uns macht und wie wir lernen können, mehr Selbstmitgefühl zu haben, lest ihr hier.

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Was ist Selbstmitgefühl?

Wie es ist, für andere mit zu fühlen, wissen die meisten Menschen. Aber wirft jemand das Wort Selbstmitgefühl in den Raum, können wir oft nicht wirklich etwas damit anfangen. Dabei bedeutet es eigentlich genau das, was es aussagt: Mitgefühl mit uns selbst zu haben. Konkret heißt das zum Beispiel, zu uns genauso gut zu sein, wie wir es zu unseren Lieben wären. Dazu kann gehören, uns zu loben, wenn wir etwas geschafft haben, uns zu trösten, wenn es uns nicht gut geht oder uns in schwierigen Situationen mit Verständnis, Trost und Zuversicht begegnen. Selbstmitgefühl ist ein Mittel, um uns anzunehmen und uns selbst zu lieben. Wir brauchen Selbstmitgefühl also, um Selbstannahme und Selbstliebe zu entwickeln. Diese Aspekte machen zusammen unseren Selbstwert aus.

Wer sich jetzt denkt „Ich will mich doch nicht die ganze Zeit selbstbemitleiden.“ Ist auf der falschen Fährte. Selbstmitleid könnte man fast als das Gegenteil von Selbstmitgefühl bezeichnen. Während wir uns beim Selbstmitleid passiv im schlechten Gefühl „baden“ und uns von anderen isolieren, gehen wir durch Selbstmitgefühl in die Aktivität. Wir versuchen aus dem schlechten Gefühl herauszukommen, indem wir für uns einstehen, unsere Gefühle akzeptieren und in uns spüren, was wir jetzt gebrauchen könnten.

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Warum sind wir nicht netter zu uns?

Es ist fast schon erschreckend, mit welcher Selbstverständlichkeit wir uns oft selbst herunter machen. Das passiert meistens automatisch und auch schon in den kleinsten, alltäglichsten Situationen. Etwas fällt herunter und geht zu Bruch und wir denken uns, „Wieso bin ich immer so tollpatschig?“ Aber wieso gehen wir mit uns so hart ins Gericht?

Wir haben vor uns selbst keine Schamgrenze. Da wir nicht weglaufen können, gehen wir unvorsichtiger mit uns um als mit anderen. Unsere Freund:innen wollen wir nicht verletzen, weil wir es uns nicht mit ihnen verderben wollen. Anderen wollen wir nicht weh tun, weil sie sonst böse auf uns sein könnten. Um also unsere Beziehung zu Mitmenschen nicht aufs Spiel zu setzen, haben wir Mitgefühl, versuchen zu unterstützen und zu helfen. Wieso riskieren wir aber die Beziehung zu uns selbst? Wobei wir doch die Person sind, mit der wir unser gesamtes Leben verbringen?

Wir haben einen liebevolle:n Begleiter:in und eine:n innere:n Kritiker:in, die immer bei uns sind. Unser:e innere:r Kritiker:in kommt vor allem zum Vorschein, wenn unser ideales Selbstbild nicht mit unserem realen übereinstimmt. Dadurch fühlen wir uns bedroht und attackieren das, was uns bedroht – uns selbst. Diese Kritik an uns hat eigentlich den Sinn, die Realität immer mehr unserem Ideal anzunähern, allerdings ist die Abweichung zwischen den beiden oft so riesig, dass es zum Gefühl des „Bedrohtseins“ kommt.

Ohne Kritik keine Motivation?

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Es gibt den Irrglauben in unserer Gesellschaft, dass wir unseren Drive verlieren, wenn wir weniger von uns abverlangen. Die Forschung zeigt, dass wir durch den Stress, den wir uns damit machen, die ganze Zeit im „Fight & Flight“-Modus sind, in dem auch Stresshormone ausgestoßen werden. Wir befinden uns also im Dauerstresszustand. Gehen wir gelassener mit uns um, wird Oxytocin, ein Bindungshormon ausgeschüttet, das uns in einen Entspannungszustand versetzt. Aus dem Modus stehen uns viel mehr Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Das liegt daran, dass wir im Stresszustand möglichst schnell reagieren müssen, um zum Beispiel evolutionär gesehen einer Gefahr aus dem Weg zu gehen oder zu kämpfen. Das war früher überlebensnotwendig und ist es manchmal auch heute noch. In den meisten Fällen, in denen wir uns in diesen Zustand versetzen, allerdings nicht. Oft wäre es viel hilfreicher, einen Gang zurückzuschalten, sich zu beruhigen und sich bei nicht hilfreichen Gedanken oder Verhaltensmustern zu ertappen.

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Selbstmitgefühl lernen

Um Mitgefühl mit uns selbst zu haben, müssen wir erstmal ein Gefühl für uns selbst bekommen. Das bedeutet, wir müssen lernen, uns zu spüren und unsere Grenzen wahrzunehmen. Das schließt mit ein, zu wissen, wann etwas zu viel ist, was noch schaffbar ist und wo lieber abgesagt werden sollte. Viele spüren diese Dinge erst, wenn sie allein sind. Besonders Menschen mit hohem Funktionslevel und Perfektionsstreben, also Leuten, die immer alles richtig machen wollen, fällt es schwer, zu spüren, was sie wirklich brauchen. Um zu lernen, mehr Kontakt zu sich aufzunehmen, können Übungen wie ein Körper-Scan, Meditation oder generell Achtsamkeitsübungen helfen. Indem wir achtsam durch den Tag gehen, achten wir viel mehr darauf, wie es uns in verschiedenen Situationen geht. Sind wir das nicht gewohnt, muss das erst erlernt werden.

Die wichtigste Regel zum Selbstmitgefühl: Sei dir selbst dein:e beste:r Freund:in. Mit uns so zu reden wie mit Freund:innen, uns zu trösten, zu feiern, sanft zu und stolz auf uns zu sein, all das sind kleine Dinge, die wir für uns tun können. Dabei gibt es natürlich keine Anleitung, die für jeden Menschen passt. Jedes Individuum muss für sich selbst herausfinden, was guttut. Das ist sehr individuell und muss nicht immer Sport, ein Schaumbad oder eine Gesichtsmaske sein. Hier gilt: Probieren geht über studieren. Wir können einfach alles Mögliche austesten und uns aufschreiben, was uns eine Freude bereitet oder in schwierigen Situationen hilft. Dabei kann unterschieden werden zwischen kurzfristigen und langfristigen „Vergnügen“. Haben wir dann eine Liste an Dingen, können wir uns jederzeit etwas passendes herausnehmen und uns so um uns kümmern. Ganz allein.

Zudem können wir, statt nur daran zu arbeiten, die Realität unserem idealen Selbstbild anzunähern, auch die andere Richtung einschlagen. Das Idealbild ist oft (fast) unerreichbar hoch, sodass die Lücke zu schließen, zumindest kurzfristig unmöglich ist. Die Lösung könnte sein, unser Ideal etwas in Richtung Realität zu verschieben. Setzen wir uns realistische, kleine Ziele, sind wir auch zufriedener mit uns, weil wir die Ziele auch tatsächlich erreichen können.

Es kann auch hilfreich sein, sich die eigenen Gedanken in schwierigen Situationen erst einmal bewusst zu machen und dann umzuformulieren. Diese Technik nennt man Selbstverbalisation. Dafür versetzt man sich gedanklich in eine Situation, in der man sich beispielsweise schlecht behandelt hat oder in Selbstmitleid versunken ist. Durch das Erinnern an die Gedanken in der Situation und eventuell die Verschriftlichung davon wird erstmal deutlich, wie wir mit uns selbst umgehen. Auch die Auswirkungen dieses Umgangs sollten wir uns klarmachen, also: Wie haben wir uns dadurch gefühlt und was haben wir gemacht? Nach der Bewusstmachung können wir nun daran arbeiten, diese Gedanken umzuformulieren. Dabei kann es helfen, zu überlegen, was unser:e beste:r Freund:in zu uns sagen würde. Genau diese Zuwendung sollten wir nämlich auch auf uns selbst richten. Das nächste Mal, wenn wir in einer schwierigen Situation sind, können wir dann versuchen, netter zu uns zu sein und die Auswirkungen dann zu vergleichen. Spoiler: Es wird sich viel besser anfühlen, lieb zu uns zu sein.

Was macht Selbstmitgefühl mit uns?

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Auch wenn das jetzt erstmal nach viel Arbeit klingt, kann diese sich wirklich lohnen. Wissenschaftliche Studien konnten nachweisen, dass Selbstmitgefühl sich positiv auf verschiedene Lebensbereiche auswirkt. So haben Menschen mit mehr Selbstmitgefühl glücklichere Beziehungen, wobei der Einfluss hierbei sogar größer ist als der unseres Bindungsstils oder Selbstbewusstseins. Die mentale Gesundheit ist durch kognitive Flexibilität erhöht. Das bedeutet, dass das Gehirn durch stärkeres Selbstmitgefühl eher in der Lage ist, Verhalten und Gedanken an neue oder veränderte Gegebenheiten anzupassen. Auch der Umgang mit Stress wird durch Mitgefühl mit uns selbst verbessert, weil wir wissen, was uns guttut und uns dann auch so verhalten. Also: „Seid lieb zueinander!“ – Und damit sind ab jetzt nicht mehr nur andere, sondern auch wir selbst gemeint.

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