Perfektionismus – Mal ganz ehrlich: Wer von uns fühlt sich bei diesem Thema wirklich so gar nicht angesprochen? Die Forschung liefert uns einmal mehr Antworten, denn eine Studie zeigt: Besonders bei jungen Erwachsenen in westlichen Ländern steigt der Druck, perfekt sein zu müssen.
Aber was ist Perfektionismus überhaupt? Es ist mehr als nur der Wunsch, Dinge gut zu machen. Es ist das starke Streben nach makelloser Leistung und einem meist unerreichbaren Ideal. Dahinter verbirgt sich oft ein Gefühl von Selbstzweifel und mangelndem Selbstwert. Wer sich diesem Perfektionismus nicht entzieht, riskiert, sein ganzes Leben einem unerreichbaren Ideal hinterherzulaufen. Heute hinterfragen wir daher, was es mit Perfektionismus auf sich hat – woher kommt er und wohin führt er uns?
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Perfektionismus ist “von sich selbst oder anderen eine höhere Leistungsqualität verlangen, als es die Situation erfordert” (Hollender, 1965). Diese Definition von dem amerikanischen Psychiater Marc Hollender ist erstmal recht breit formuliert. Deshalb haben wir 13 Gedanken oder Aussagen für dich gesammelt, die Menschen mit einem hohen Perfektionismus oft begleiten. Höre genau in dich hinein und reflektiere, welche inwieweit auf dich zutreffen.
Und? Hast du dich bei ein paar von diesen Gedanken ertappt gefühlt? Sei ganz ehrlich mit dir, denn nur Erkenntnis kann zu Veränderung führen. Dabei können deine eigenen Gedanken und Annahmen natürlich andere Nuancen haben. Welche weiteren Gedanken sind jetzt in dir aufgekommen?
Perfektionismus äußert sich oft in einer übermäßigen Angst vor Fehlern und hohen Ansprüchen an sich selbst oder andere. Darüber hinaus neigen perfektionistische Menschen dazu, an der Qualität ihres eigenen Handelns zu zweifeln.
Woher kommt unser Perfektionismus? Oftmals steht dahinter ein verzweifelter Versuch, das Gefühl von Unzulänglichkeit im Inneren durch äußere Leistungen zu überwinden. Menschen mit geringem Selbstwert neigen oft dazu, sich ihren Wert durch äußere Erfolge zu bestätigen. Oftmals endet dies in einem gefährlichen Teufelskreis: Sie setzen sich hohe Ziele, an denen sie häufig scheitern oder sie erst gar nicht in Angriff nehmen, was wiederum ihr Selbstwertgefühl weiter mindert. Diese negative Spirale verstärkt den Perfektionismus nur noch mehr. Mangelnder Selbstwert kann also zu Perfektionismus führen. Und Perfektionismus kann das Selbstwertgefühl mindern.
Aber wie entsteht Perfektionismus überhaupt? Zwillingsstudien deuten darauf hin, dass Perfektionismus teilweise vererbt wird, wobei die Erziehung ebenfalls eine Rolle spielt. Hohe elterliche Standards oder wenig Wärme können die Entwicklung von Perfektionismus beeinflussen. Es gibt eine alarmierende Zunahme von Perfektionismus in unserer Gesellschaft. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass Vergleichsmöglichkeiten und Leistungsstandards immer höher werden. In einer Welt, in der jeder sein Bestes gibt, um in allen Bereichen perfekt zu sein, fühlen sich viele unweigerlich unter Druck gesetzt, diesem Ideal gerecht zu werden.
Perfektionismus ist ein breit gefächertes Konzept. Ein Modell, das die unterschiedlichen Arten von Perfektionismus umreißt, ist das Drei-Facetten-Modell von Paul L. Hewitt und Gordon L. Flett aus dem Jahr 1991. Dieses Modell teilt Perfektionismus in drei Hauptkategorien ein: selbstorientierten, sozial vorgeschriebenen und fremdorientierten Perfektionismus.
Menschen mit einem hohen selbstorientierten Perfektionismus setzen hohe persönliche Standards. Sie erwarten Perfektion von sich selbst und neigen dazu, sich selbst stark zu kritisieren. Ein Beispiel für selbstorientierten Perfektionismus könnte sein, wenn sich jemand akribisch in ein Thema einarbeitet, weil er sich sonst ungenügend fühlt. Der Anspruch an sich selbst ist, alles wissen zu müssen. Das kann leicht zu einem Gefühl des Versagens führen, wenn diese, meist unrealistischen, Standards nicht erreicht werden.
Menschen mit einem hohen sozial vorgeschriebenen Perfektionismus glauben, dass Perfektion wichtig für andere ist. Sie streben danach, möglichst fehlerlos zu sein, um den Erwartungen anderer zu entsprechen. Diese Menschen sind oft kritisch sich selbst gegenüber und versuchen, Fehler zu vermeiden, um ein makelloses Bild zu präsentieren. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn jemand sich die ganze Woche gestresst fühlt und sich Sorgen macht, ob seine Arbeit den Erwartungen seiner Chefin entspricht.
Menschen mit einem hohen fremdorientierten Perfektionismus legen ihren Fokus auf die Kritik und Bewertung anderer. Sie erwarten Perfektion von anderen und äußern starke Kritik gegenüber Personen, die ihren Erwartungen nicht entsprechen. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn jemand wütend reagiert, weil ein Kommilitone die Arbeit an einem Projekt nicht genauso ernst nimmt wie er selbst.
All diese Facetten können in verschiedenen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Sie eint das Streben nach Perfektion. Häufig neigen perfektionistische Menschen auch zu einem Schwarz-Weiß-Denken und sehen nicht die Grautöne dazwischen. Ein typischer Gedanke könnte sein : “Wenn ich das nicht schaffe, habe ich auf ganzer Linie versagt.”.
Der ständige Druck, perfekt zu sein, kann eine enorme Belastung sein. Mit der Angst zu leben, den eigenen sowie den Erwartungen anderer nicht gerecht zu werden, ist anstrengend. Studien zeigen: Perfektionismus führt nachweislich zu emotionalem Stress. Zusätzlich ist er eng mit einer Vielzahl von psychischen Problemen verbunden, darunter depressive Symptome, Angststörungen, Zwangsstörungen und Essstörungen.
Perfektionismus beeinflusst nicht nur das individuelle Wohlbefinden, sondern auch das zwischenmenschliche Verhalten und die Qualität von Beziehungen. Menschen, die perfektionistische Tendenzen zeigen, leiden oft unter einem starken Bedürfnis nach Anerkennung und haben Angst vor Ablehnung. Sie neigen dazu, sich hinter einer Fassade zu verstecken und trauen sich oft nicht, ihr wahres, fehlbares Selbst zu zeigen. Das ist schade, denn so kann eine Beziehung entstehen, an der das eigene Selbst gar nicht wirklich beteiligt ist.
Wenn jemand sich vermeintlich perfekt zeigt und Fehler um jeden Preis vermeidet, kann dies ähnliches Verhalten auch in anderen auslösen. Dies führt zu einem Teufelskreis, der es der perfektionistischen Person in Zukunft noch schwerer machen kann, aus dem eigenen Muster auszubrechen. Ein Beispiel hierfür ist, wenn eine Person immer darauf bedacht ist, sich politisch korrekt auszudrücken. Dies kann bei anderen das Gefühl auslösen, dass sie sich ebenfalls fehlerfrei politisch korrekt ausdrücken müssen, insbesondere in der Gegenwart dieser Person. Das führt wiederum dazu, dass die Freundin weiter an diesem Verhalten festhält, weil “das ja alle so machen” und keine Fehler erlaubt sind. So bleibt jeder in dem Muster gefangen, in dem Fehler nicht erlaubt sind und Selbstabwertung stattfindet, wenn etwas nicht ganz korrekt ausgedrückt wird.
Paradoxerweise kann übermäßiger Perfektionismus zu Prokrastination führen, da die Angst vor Fehlern und die Unfähigkeit, perfekte Ergebnisse zu garantieren, dazu führen können, dass Aufgaben gar nicht erst angegangen werden. Diese Prokrastination kann wiederum zu einem Gefühl der Unzufriedenheit und des Versagens führen, was den Perfektionismus weiter verstärkt. Perfektion ist nicht erreichbar und es ist besser, anzufangen und unvollkommene Fortschritte zu machen, als gar nicht anzufangen.
Perfektionismus kann uns daran hindern, uns wirklich auf Situationen und Menschen einzulassen. Wir sind so damit beschäftigt, alles im Voraus zu durchdenken und uns auf alles vorzubereiten, dass wir den Moment verpassen und keine echte Verbindung zu anderen aufbauen können. Eine Studie zeigt auch: Menschen mit hohem Perfektionismus suchen sich weniger wahrscheinlich Hilfe und gehen z.B. weniger in Psychotherapie, weil es ihr Selbstbild gefährden könnte. Aus Angst vor einem Urteil der anderen können sich diese Personen nicht vollständig öffnen, selbst im Rahmen einer Therapie nicht. Die Erfahrung, sich einem anderen Menschen authentisch und verletzlich zeigen zu können, kann helfen, sich selbst zu akzeptieren. Übermäßiger Perfektionismus kann damit Auswirkungen auf die Erfolgschancen einer Therapie haben.
In unserer Gesellschaft wird Perfektionismus oft als positive oder erstrebenswerte Eigenschaft angesehen. Zum Beispiel wird es in einem Bewerbungsgespräch oft geschätzt, wenn Kandidat:innen betonen, dass sie hohe Standards sowohl für sich selbst als auch für andere haben. Ist Perfektionismus also wirklich so schlecht für uns?
Der maladaptive Perfektionismus ist gekennzeichnet durch wertende Bedenken und übermäßige Sorgen. Er bezieht sich oft auf (vermeintliche) gesellschaftliche Erwartungen, die von außen an uns herangetragen werden. Ein Beispiel hierfür könnte sein, wenn jemand unbedingt eine perfekte Note im Abitur erreichen möchte und sich stark dafür anstrengt. Wenn das Ziel nicht erreicht wird, folgen Selbstabwertung und Enttäuschung.
Im Gegensatz dazu steht der adaptive Perfektionismus, der durch ein gesundes Streben nach persönlicher Exzellenz und hohen Standards gekennzeichnet ist. Hier liegt der Fokus vor allem auf den eigenen Erwartungen an sich selbst. Eine Person, die diesen Perfektionismus zeigt, strebt ebenfalls nach einer perfekten Note im Abitur, strengt sich dafür an, akzeptiert jedoch auch, dass Perfektion nicht immer erreichbar ist. Sie ist weniger enttäuscht, wenn das Ziel nicht erreicht wird, und kann sich über erreichte Fortschritte freuen.
Der entscheidende Unterschied liegt in der Akzeptanz. Adaptiver Perfektionismus beinhaltet die Fähigkeit, auch Fehler und Unvollkommenheiten zu akzeptieren. Perfektionismus ist also nicht zwangsläufig negativ. Ein gesundes Streben nach Exzellenz kann motivierend sein und zu persönlichem Wachstum führen. Es ist jedoch entscheidend, dass wir uns selbst gegenüber gütig sind und auch die unvermeidlichen Fehler und Misserfolge im Leben akzeptieren können.
Um einen gesunden Umgang mit unseren eigenen perfektionistischen Tendenzen zu finden, ist es hilfreich zu verstehen, was dahinter liegt. Perfektionismus dient oft als Schutzmechanismus, um negative Gefühle zu vermeiden. Wir versuchen, uns vor Gefühlen wie Scham, Schuld, Traurigkeit und Wut zu schützen, indem wir uns perfekt präsentieren und keine Fehler zulassen. Doch indem wir unsere vermeintlichen Schwächen verstecken, verbergen wir auch unser wahres Selbst – mit all unseren menschlichen Fehlern und Unvollkommenheiten.
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Überlege, in welchen Situationen und wie der Drang nach Perfektionismus dich beeinflusst. Wie fühlt sich dieser Druck an? Was sind Gedanken, die immer wieder auftauchen?
2
Wie realistisch sind deine Standards? Kann die perfekte Vorstellung überhaupt erreicht werden? Was steckt hinter dem Wunsch, perfekt zu sein?
3
Vielleicht hast du in deiner Reflektion bestimmte Situationen erkannt, in denen deine Ansprüche sehr hoch sind. Was wären realistische Erwartungen für diese spezifischen Situationen?
4
Hier kann eine neue Perspektive helfen, die eigene zu ändern: Frag Freund:innen/ Familie, wie sie die Situation einschätzen würden!
5
Oft bauen unsere Standards auf Annahmen über die Erwartungen von anderen Menschen auf. Teste diese Annahme! Würden andere Menschen bemerken, wenn du nicht deine volle Leistung erbringst?
6
Sei ehrlich zu dir: Was vermeidest du aus Angst, zu versagen?
7
Trau dich, auch unperfekte Dinge zu tun. Mache bewusst Fehler und beobachte, was wirklich passiert. Das ist kein einfacher Schritt und ganz schön mutig! Nur indem du dich deiner Angst stellst, kannst du sie bewältigen.
8
Es ist in Ordnung, Fehler zu machen. Es ist in Ordnung, nicht perfekt zu sein. Akzeptiere dich, als die Person, die du bist, und nicht als die Person, die du gerne sein würdest.
9
Konzentriere dich bewusst auf die positiven Aspekte einer Situation und nicht nur auf Fehler und Unvollkommenheiten. Was hast du gut gemacht?
10
Erlaube dir, Fehler zu machen und sei gütig mit dir selbst. Behandle dich, wie du einen guten Freund oder eine gute Freundin behandeln würdest. Du bist es wert.
11
Finde persönliche Werte, die größer sind als Leistung.
12
Umgebe dich mit Menschen, die dich auf deinem Weg unterstützen.
13
Gib dir Zeit, um zu lernen. Sei nicht zu hart zu dir selbst, wenn es nicht sofort klappt. Dazu will ich dir diesen schönen Gedanken mitgeben: „Es ist okay, dass ich Fehler mache, aber es ist auch okay, dass mir das jetzt noch schwer fällt.”.
Trau dich, den ersten Schritt zu machen und dir selbst die Erlaubnis zu geben, nicht perfekt zu sein. Niemand ist das. Unsere Stärken und Schwächen zeichnen uns als menschlich aus.